Prof. Dr. Hartmut Schulze, Fachhochschule Nordwestschweiz: „Undifferenzierte Großraumbüros behindern konzentriertes Arbeiten“

Prof. Dr. Hartmut Schulze Professor an der Hochschule für Angewandte Psychologie (Fachhochschule Nordwestschweiz) und leitet seit 2011 das Institut für Kooperationsforschung und -entwicklung. Seine Schwerpunkte liegen in der Analyse, Gestaltung und Evaluation von Konzepten und Lösungen zu Arbeits- und Büroräumen, zu mobil-flexibler Arbeit und zur Mensch-Roboter-Interaktion.

Der Arbeits- und Organisationspsychologe arbeitete zuvor in der Forschung & Entwicklung bei DaimlerChrysler, wo er das Team „Psychologie im Engineering“ im Labor „IT for Engineering“ verantwortete.

Auf der iafob-Jahrestagung am 22. November 2018 in Bern spricht Prof. Schulze über die Wiederentdeckung von „Deep Work“. Vorab stand er uns Rede und Antwort über konzentriertes Arbeiten und wie sich Ablenkungen am besten ausblenden lassen.

IAFOB:
„Deep Work – zur Relevanz eines «wiederentdeckten» Arbeitsmodus für die Gestaltung von Arbeit und Büroumgebungen“ist der Titel Ihres Vortrags auf der iafob deutschland Jahrestagung 2018. Sich ganz auf eine Sache zu fokussieren war aber doch immer entscheidend für die Erledigung einer Aufgabe. Wie konnte dieser Arbeitsmodus bei der Gestaltung von Büroumgebungen vergessen werden?

PROF. SCHULZE:
Man kann bei dieser Frage fast den Eindruck eines Pendels gewinnen, das von einem Extrem ins andere schwingt… Schaut man auf die Entwicklungsgeschichte von Büroräumen, so lassen sich wiederkehrende Muster erkennen.

Grossräume und uniforme Arbeitsplätze waren schon mal Ende des 19. Jahrhunderts populär, bevor dann Zellenbüros Mitte des letzten Jahrhunderts sehr verbreitet waren. Letztere förderten die zurückgezogene konzentrierte Arbeit – behinderten aber spontane, ungeplante Begegnungen.

Mit der beginnenden Vernetzung und der Einführung des Internets in den 1970-ern wurde die spontan sich ereignende Kommunikation als ein Erfolgsfaktor für Wissensarbeit erkannt. Informelle Kommunikation zwischen Kollegen und quer durch die Hierarchien sollte durch den Wegfall von Wänden deutlich besser unterstützt werden und bildete eine zentrale Motivation für die Einführung von Grossraumbüros.

Mittlerweile zeichnet sich immer klarer ab, dass insbesondere undifferenzierte Grossräume konzentriertes Arbeiten stark behindern und darüber hinaus fördern sie kommunikative Episoden deutlich weniger als angenommen. Es mag zwar trivial erscheinen, aber Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Formen von Zusammenarbeit und Einzelarbeit kommen erst jetzt in den Blickpunkt und sind gestalterisch nicht so leicht umzusetzen. Wobei «activity based»- bzw. Multispace-Arbeitsumgebungen schon einige Ansatzpunkte bieten.

IAFOB:
Konzentriertes Arbeiten entsteht erst dann, wenn wir sämtliche Ablenkungen ausblenden. Wir alle sind umflutet von Informationen, Nachrichten von Facebook oder E-Mails. Wie lassen sich diese permanenten Ablenkungen im Büroalltag ausblenden?

PROF. SCHULZE:
Im Rahmen von Wissensarbeit stellen Unterbrechungen in der Tat Belastungen dar, die nach der Jahrtausendwende deutlich zugenommen haben und deren negative gesundheitliche Auswirkungen v.a. in Kombination mit Zeitdruck in Form von Burnout, Depression und kardiovaskulären Erkrankungen gut belegt sind. Auch in aktuellen Längsschnittstudien wie beispielsweise von Haapakangas et al. (2018) zeigen sich Ablenkungen und Unterbrechungen als kritischer Faktor beim Umzug von Einer- oder Mehrzellenbüros in Grossraumbüros.

Gleichzeitig können Unterbrechungen allerdings auch etwas Gutes für das eigene Arbeitshandeln haben, beispielsweise wenn man im Rahmen eines Telefonats mitbekommt, dass sich die Anforderungen für ein Meeting verändert haben. Eine gute Kombination von Arbeitsabschnitten in vollständiger visueller und akustischer Zurückgezogenheit mit Formen des Coworkings im Angesicht von Anderen und der Möglichkeit zu informeller Kommunikation erfordert ein entsprechendes Angebot an Räumlichkeiten.

Es braucht dann aber auch die individuelle Kompetenz, die passende Räumlichkeit für die jeweilige Aufgabe zu suchen. Und es bedeutet weiterhin, die «inneren» Ablenkungen kontrollieren zu können.

In jedem Fall hilft es, Emails, Telefon und sonstige «Prompts» aus sozialen Foren bewusst für die Phase des konzentrierten Arbeitens abzuschalten. Dies muss allerdings auch in der Arbeits- und Organisationskultur verankert und anerkannt sein. Das heißt, Kollegen, Kolleginnen und Vorgesetzte sollten die Mitarbeitenden in diesen Phasen auch in Ruhe arbeiten lassen können.

IAFOB:
Mitarbeitende, die ihre Arbeitsumgebung (mit)gestalten dürfen, sind zufriedener und produktiver. Können Mitarbeitende ihren “Rückzugsraum” für fokussiertes Arbeiten selbst gestalten? Oder ist das nur im Home Office möglich?

PROF. SCHULZE:
Wenn das Ziel darin besteht, für Mitarbeitende und ihre Aufgaben eine optimale Büroarbeitsumgebung zu schaffen, so ist man gut beraten, sie an der Gestaltung auch zu beteiligen. Sie sind die Fachexperten und kennen die Anforderungen, die ihre Aufgaben an sie stellen auch am besten. Nicht von ungefähr ist die «Zufriedenheit mit der Büroraumumgebung» ein Prädiktor für Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit.

Für ihre Beteiligung spricht auch, dass sich die Bedürfnisse von Mitarbeitenden individuell unterscheiden können – die einen brauchen stärker eine Verbindung zu ihren Kollegen und Kolleginnen und die anderen sind im vollkommenen Rückzug am produktivsten. Die jeweilige Präferenz ist häufig auch von der Situation und der eigenen Stimmung abhängig und kann sich somit innerhalb von Personen über den Tag oder die Woche ändern. Selbstachtsamkeit und Selbstwahrnehmung sind somit wichtige Grundlagen für die Kompetenz, den richtigen Ort für den jeweiligen Aufgabenkontext wählen zu können.

Von daher braucht es meiner Ansicht auch Lernprozesse und Anschauungsbeispiele, um Mitarbeitende in die Lage zu versetzen, qualifizierte Gestaltungslösungen erarbeiten zu können. Hinzu kommt, dass zunehmend auch Erkenntnisse beispielsweise aus der psychologischen Grundlagenforschung neue Perspektiven für die Gestaltung von Arbeitsräumen bieten, die sich nicht unmittelbar und intuitiv erschliessen.

So gibt es beispielsweise neben dem konzentrierten, fokussierten Verarbeitungsmodus auch einen assoziativen, freischwebenden Modus, der günstig ist für die Entwicklung kreativer Ideen und von Innovation. Für die Gestaltung von Stillarbeitsräumen kann z.B. die Construal Level Theorie Anregungen liefern. So ist ein Blick in die Weite beispielsweise günstig bei Aufgaben mit höheren Abstraktionsniveaus, da die beiden betroffenen Hirnareale in unmittelbarer Nähe liegen und sich gegenseitig enervieren. In der gleichen Logik ist für die Umsetzung konkreter Lösungen ein tieferes Construal Level und damit einhergehend eine reizärmere Umgebung förderlich.

So gesehen braucht es meines Erachtens die Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitenden und professionellen Gestaltungsexperten.

IAFOB:
Die Jahrestagung 2018 betont mit Ihrem Titel “Cowork” den wichtigen Aspekt des Zusammenarbeitens, des Wissensaustauschs und gemeinsamen Lernens. Aus diesen Kontakten entstehen Ideen und Projekte. Coworking Spaces steigern das Innovationspotenzial. Wie lassen sich die Ziele von Deep Work und Cowork in einer Arbeitsumgebung verwirklichen?

PROF. SCHULZE:
Das ist in der Tat eine Herausforderung. Bisherige Coworking Spaces zeichnen sich ja vor allem durch ein vielfältiges Angebot an Kollaborationsflächen aus. Nebeneinander, aber nicht allein – dies ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Motto.

Wir kennen das alle: Manchmal und für manche ist das Für-sich-Arbeiten in einem bevölkerten Café ertragreicher als im einsamen Home Office. Gleichzeitig kommt aber dem Angebot von Räumlichkeiten für zurückgezogene Einzel- oder Gruppenarbeit und deren einfacher Zugänglichkeit am besten in Sichtweite von Standardarbeitsplätzen eine wichtige Bedeutung für die Zufriedenheit mit der Arbeitsumgebung, für das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit zu.

So gesehen ist das Nebeneinander von gut ausgestatteten und gut gestalteten Rückzugsräumen und von Räumlichkeiten für Zusammenarbeit und Kollaboration perspektivisch richtig. Zentral dafür ist sicherlich die Realisierung einer adaptiven Akustik. Eine zu hohe Lärmbelastung durch Gespräche, Telefonate und Bewegung stellt noch immer eine der zentralen Schwachstellen bestehender Grossraumbüros und Multispaces dar.