Im Juli 2018 meldete die Deutsche Krankenversicherung AG (DKV): „Niedrigste Bewegungszeit – Deutschland sitzt sich krank“.
Der Stand der Bewegung sank auf den niedrigsten Wert seit 2010. Damals erfüllten immerhin noch 60 Prozent das Mindest-Soll gemäß den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation WHO, die besagen: 150 Minuten pro Woche zur Arbeit oder einkaufen gehen, Treppen laufen, radeln, schwimmen, Bergsteigen – was auch immer, nur nicht sitzen. Ende Juli 2021 erscheint der neue DKV-Report. Haben die Menschen die Mobilitäts- und Kontaktbeschränkungen für mehr körperliche Aktivität genutzt?
Denken braucht Bewegung
In den Lehranstalten der Antike hatte die Akademie als Zentrum den Wandelgang, in dem der Lehrer im Gespräch mit einzelnen Schülern auf- und abging. Denken braucht keine Ruhe, Bewegung nützt dem Denkvorgang, weil dann mehr Hirnareale beteiligt sind.
In manchen Schulen in Deutschland wird seit einiger Zeit während des Unterrichts gestrampelt: Schüler sitzen auf einem Fahrrad-Ergometer oder laufen auf einem Laufband herum. Erprobt wird das Vorgehen an zwei Schulen in Bremen und Aschaffenburg. Erste wissenschaftliche Untersuchungen durch die Universität Oldenburg zeigen, dass das Ziel erreicht wird. Die Schüler bringen tatsächlich bessere Leistungen im Rechnen und können sich besser und länger konzentrieren.
“Bewegung nützt dem Denkvorgang, weil dann mehr Hirnareale beteiligt sind.”
Körperliche Aktivität fördert nicht nur Durchblutung und Muskelaufbau, sie ist also auch nützlich für Geist und Seele. Eine Studie von Forschern der Universität Ulm ergab, dass Grundschüler, die täglich Sportunterricht haben und dafür weniger Unterricht in anderen Fächern, bessere Leistungen als eine Vergleichsgruppe besonders in Mathematik erbringen. Es erhöht außerdem das räumliche Vorstellungsvermögen und die Konzentrationsfähigkeit.
„Die Bewegung an sich macht nicht intelligenter“, sagt Stefan Schneider vom Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft an der Deutschen Sporthochschule Köln. „Aber Kinder werden durch den Sport ruhiger, so können sie sich besser konzentrieren, mehr Wissen aufnehmen und werden dadurch leistungsfähiger.“
Nach neuesten Erkenntnissen verändert sich durch Bewegung das Gehirn. Die Hirnareale, die für Faktenwissen, Erinnerungen, räumliche Lern- und Gedächtnisprozesse zuständig sind, wachsen und werden besser verschaltet.
Der Arbeitsraum muss zum Bewegungsraum werden
Wir müssen wegkommen vom bewegungslosen Sitzen. Ein guter Bürostuhl für dynamisches Sitzen ist hier der erste Schritt für mehr Bewegung. Auf den neuen, dreidimensional beweglichen Bürostühlen reichen kleinste, unbewusste Gewichtsverlagerungen, um ganz automatisch die Gelenke gängig zu halten, die Muskeln zu versorgen und das Gehirn zu stimulieren.
Gebraucht wird ein Stuhl, der so flexibel ist, dass er möglichst viele Sitzhaltungen erlaubt, denn „die beste Haltung ist die jeweils nächste“. Eine andere Sitzhaltung einzunehmen, bedeutet auch eine neue Perspektive zu gewinnen. Je variabler die Sitzhaltungen sind, desto gesunderhaltender ist das Bewegungsverhalten und die veränderten Blickwinkel erzeugen veränderte Betrachtungsweisen der gleichen Situation.
Aber das allein genügt nicht. Der gesamte Arbeitsraum sollte zur Bewegung auffordern.
Wie in einem Kindergarten, wo zwei Räume zur Verfügung stehen, ein großer zur Gestaltung der Spiel- und Erziehungssituation und ein zweiter kleiner als Ablageraum für die dazu notwendigen Möbel.
Der große Raum kann je nach den Bedürfnissen gestaltet werden: Zum Singen stellen die Kinder Stühle in einen Kreis, zum Malen werden Tische und Stühle aufgebaut, zum Ausruhen legt man Matratzen aus, etc. Die Kinder haben Spaß bei der Gestaltung, sie können ihren natürlichen Bewegungsdrang ausleben und sie lernen dabei soziales Verhalten.
“Wenn Mitarbeitende zu Beginn eines Meetings den Raum selbst mit Tischen, Stühlen, Präsentationsmaterial und unterstützender IT miteinander aufbauen, lernen sie sich besser kennen, üben soziales Verhalten – und das trägt zu einem besseren Ergebnis der Besprechung bei.”
Der Arbeitsraum, der sich frei umgestalten lässt, gibt den Mitarbeitenden die Möglichkeit, sich voll zu entfalten und sich zu engagieren. Und er bietet die Chance, sich zu bewegen.
Wenn Mitarbeitende zu Beginn eines Meetings den Raum selbst mit Tischen, Stühlen, Präsentationsmaterial und unterstützender IT miteinander aufbauen müssen, lernen sie sich besser kennen, üben sie soziales Verhalten – und das trägt zu einem besseren Ergebnis der Besprechung bei. Es unterstützt die Teambildung, wenn Mitarbeitende sich die Tische und Stühle für ein Meeting oder ein zu startendes Projekt selbst zusammenstellen müssen. Bewegung ist nicht nur gesundheitserhaltend, sondern schafft Raum im Kopf für kreative Ideen. Und diese Arbeitslandschaft ist auch flächensparend und nachhaltig.
Bewegung führt über Gesundheit zu einer neuen Unternehmenskultur
„Unfertige“ Räume und Möbel schaffen ein innovationsförderndes Klima. Dazu braucht es lediglich beispielsweise falt- und klappbare Tische, rollbare Sitz- und Stehmöglichkeiten sowie beschreibbare Wände, aber auch eine perfekte mediale und digitale Unterstützung.
Klaus Würschinger, Architekt aus Berlin, sagte schon auf der iafob deutschland Jahrestagung 2017: “Co-Working-Spaces sind ein ideales Betätigungsfeld für die Beschäftigten. Meine Erfahrung: In unfertigen Räumen kann man schöne Dinge entstehen lassen.“
Ein Prinzip des Open-Space-Konzepts (Harrison Owen) ist das der Beweglichkeit. Die Teilnehmer einer Open-Space-Veranstaltung stehen auf, gehen in die Mitte und schreiben dort auf vorbereiteten Blättern ihr Thema nieder. Wenn alle Themen benannt sind und niemand ein weiteres vorzubringen hat, wird der Marktplatz eröffnet. Auf diese Weise ist jeder Raum oder das ganze Gebäude, in dem Open Space stattfindet, ein einziger Workshop. Überall Gespräch, überall Diskussion, überall ein Kommen und Gehen, überall Bewegung. Der Open Space Gedanke fördert damit die gesundheitserhaltenden Verhaltensweisen hin zu einer Unternehmenskultur, die betriebliche Gesundheit als eines ihrer Elemente sieht.
Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel in deutschen Büros. Weg vom genormten, starren Sitzarbeitsplatz hin zum menschengerechten Arbeiten im Bewegungsraum. Der Mensch ist physiologisch für das lange Sitzen nicht geschaffen, nur in Bewegung können Körper und Geist leistungsfähig sein.
Mehr in: Flexible Arbeitswelten, Band 4, Kapitel 3, Gesundheitsförderliches Arbeiten
Über den Autor
Dieter Boch ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Arbeitsforschung und Organisationsberatung (iafob deutschland) und Leiter des internationalen Flexible.Office.Network., einem überbetrieblichen Forum für den Wissens- und Erfahrungsaustausch zur BüroArbeitswelt von Morgen.
Als Dozent lehrte er an der Fachhochschule Salzburg und der Hochschule für Wirtschaft in Zürich Führungsverhalten und Future Work & Workplace Design.
Der Diplom-Psychologe ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen und
Mitherausgeber der Buchreihe „Flexible Arbeitswelten“.