Wir haben das Trauern verlernt. Der Tod wird in unserer Gesellschaft aus dem Leben verbannt. Daher erleben wir Verlust nicht mehr und lernen nicht mehr, mit Verlust umzugehen. Doch wo Neues entstehen soll, muss Altes weichen. Sich von Altem zu verabschieden geht nicht, ohne dass wir Liebgewonnenes betrauern und Vertrautes loslassen. Jede Veränderung braucht den Mut zur konstruktiven Zerstörung. Ein Plädoyer für mehr Trauerarbeit im Changemanagement.
Alle Changemanagement-Betreibenden berufen sich auf den amerikanischen Psychologen Kurt Lewin, der in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts das Drei-Phasen-Modell für Veränderungen in der Gesellschaft beschrieb: Alte Struktur auftauen, bewegen und einfrieren zu einer Neuen Struktur.
Bereits Lewin hatte festgehalten, dass auch die neue Struktur wieder zu einer Alten wird und damit der Prozess von Neuem beginnen muss. Nur war damals der Wandel eine beherrschbare Größe, die sich in langen Zeiträumen vollzog.
Zeit war bis Mitte des letzten Jahrhunderts – also noch vor zwei bis drei Generationen – eine vertraute behagliche Größe. Es gab genug Zeit, ein Lebenswerk zu vollenden. Zeit, von der Schule über die Lehre und die Gesellenzeit durch langjährige Erfahrung zur Meisterschaft zu gelangen, zu einer anerkannten Autorität zu “reifen”.
Früher war “Neues” war erstaunlich, verwunderlich, abstoßend, willkommen, bedrohlich, verständlich – aber durch eine lange Inkubationszeit verdaubar.
Es war genügend Zeit vorhanden, technische Innovationen zu begreifen und in sein Leben zu integrieren. “Neues” war erstaunlich, verwunderlich, abstoßend, willkommen, bedrohlich, verständlich – aber durch eine lange Inkubationszeit verdaubar.
Für Kurt Lewin gab es keinen Grund, die neue Struktur sofort wieder in Frage zu stellen, sondern es war wichtig sich an das Neue zu gewöhnen, sich vertraut damit zu machen, es zu beherrschen und „lieb“ zu gewinnen.
Der Satz von Thomasi de Lampedusa aus dem 17. Jahrhundert „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt wie es ist, dann ist es notwendig, dass sich alles verändert“ galt für Veränderungen, die einmal im Leben auftraten. Einmal im Leben musste man sich von Vertrautem, von Liebgewonnenem verabschieden, musste man „trauern“.
Man wusste, dass Veränderung innerhalb der Zeit und damit Wandel, ein Grundprinzip des Kosmos ist. Wandel der Jahreszeiten, Zellerneuerungen, Ebbe und Flut oder auch Leben und Tod sind konstante, wiederkehrende Veränderungen, die auf jeden zukamen und deshalb leicht zu akzeptieren waren.
Wandel und Verlust als ständige Begleiter des Arbeitslebens
Heute ist aus dem Drei-Phasen-Modell von Kurt Lewin ein kontinuierlicher Prozess geworden, den wir selbst steuern. Die Schaffung einer neuen Struktur ist der Startpunkt für ihre Infragestellung, für ihre Veränderung. Der Wandel und damit auch der Verlust sind ständige Begleiter des „Arbeitslebens“ geworden.
Heute hat der Wandel ein rasantes Tempo. Die Veränderungen kommen auf die meisten von uns zu. Wir bestimmen sie nicht. Wir legen nicht fest, wovon wir uns verabschieden müssen. Deshalb trifft uns der Verlust von Gewohntem unvorbereitet.
Changemanagement muss unterscheiden zwischen der Angst vor Verlust und der Angst vor dem Neuen.
Changemanagement muss unterscheiden zwischen der Angst vor Verlust und der Angst vor dem Neuen. Dies sind zwei Phasen, die unterschiedlich betrachtet und behandelt werden müssen. Angst vor Verlust erfordert „Trauerarbeit“. Angst vor dem Neuen erfordert Neugier wecken, Lust auf Abenteuer erzeugen und hoffnungsvoll in die Zukunft schauen.
Das Neue ist durch die Zielsetzung des Projektes bekannt. Das Neue soll erreicht werden. Changemanagement-Betreibende konzentrieren sich in ihrem Vorgehen häufig auf die zweite Phase: Das Ziel zu erreichen, den Mitarbeitenden das Neue als erstrebenswert darzustellen und vernachlässigen dabei, dass sich der Mitarbeitende erstmal vom Alten, vom Verlust freimachen muss.
Wo man hin will, wissen alle. Aber wo geht man los? Dies ist individuell sehr unterschiedlich. Denn die Trauer über den Verlust ist keine konstante Größe, sondern für jeden Einzelnen bezogen auf den „Trauergegenstand“ groß oder klein. Changemanagement-Betreibende referieren und/oder missionieren mit den Zukunftszielen, vergessen aber oft die Menschen in ihrem jeweiligen individuellen (Zu)Stand des Trauerns über den Verlust abzuholen.
Auch eine positive Veränderung bedeutet Verlust, weil Gewohntes, Liebgewonnenes aufgegeben werden muss.
Trauerarbeit besteht im Wesentlichen darin, loszulassen, den Sterbenden gehen zu lassen. Zur Trauerarbeit gehört. nicht nur den Verlust zu beklagen, nicht nur zurückzublicken, sondern den Blick auch nach vorne zu richten. Auch eine positive Veränderung bedeutet Verlust, weil Gewohntes, Liebgewonnenes aufgegeben werden muss. Die zweite Phase des Changemanagements ergibt sich daher von selbst, hat man die erste Phase richtig und ausreichend behandelt.
Wir müssen das Liebgewonnene, Vertraute loslassen können. Und das in einer Zeit, in der wir das Trauern eigentlich verlernt haben. Der Tod ist in unserer Gesellschaft aus dem Leben verbannt. Sterbende werden ins Krankenhaus abgeschoben. Wir erleben nicht mehr den Verlust, wir lernen nicht mehr, mit Verlust umzugehen.
Trauerarbeit gelingt besser in Gemeinschaft als allein.
Und Trauerarbeit gelingt auch besser in Gemeinschaft als allein. Der Leidensdruck, der durch den Verlust entstanden ist, setzt durch ein gemeinsames Problembewusstsein neue Kräfte frei und kann begeistern, schafft damit die Voraussetzung für Bewegung, den Blick nach vorn zu richten.
Wenn wir nicht wollen, dass der Wandel uns unvorbereitet trifft, müssen wir uns bewusst von Altem verabschieden, den Blick nach vorn richten und uns fragen: „Was bist du bereit von gerade Vertrautem, von gerade Liebgewonnenem aufzugeben?“ „Was sind wir bereit, über Bord zu werfen?“
Wir setzen uns dadurch bewusst mit dem Verlust auseinander. Wir entscheiden dann, welchen Verlust wir erleiden, über was wir „trauern“ müssen. Aber auch darüber, was uns bisher behindert, gestört, genervt hat und was wir gern loswerden wollen.
Jede Veränderung braucht den Mut zur konstruktiven Zerstörung.
Jede Veränderung braucht den Mut zur konstruktiven Zerstörung. Wir schaffen damit auch die Möglichkeit, dass etwas Neues entstehen kann. Denn wo soll sonst Neues entstehen, wenn das Alte nicht weicht. Ohne Minus kein Plus, ohne Weniger kein Mehr.
Fazit:
Wir sollen weg von „Besitzstandswahrung“, denn ewig währt kein Leben, keine Sache, kein Ding und hin zu: „Was gewinne ich?“.
Durch den Blick nach vorn gewinnt man Möglichkeiten, Chancen, bestimmt aktiv den Wandel und schaut nicht nur rückblickend auf den Verlust. Aber das gelingt nur, wenn man sich verabschiedet hat von dem Bisherigen.
Auch „Trauern“ braucht Zeit, genauso, wie sich an Neues zu gewöhnen. „Ein Grashalm wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht“, besagt ein chinesisches Sprichwort.
Changemanagement braucht Zeit. Es ist ein Reifeprozess in zwei Abschnitten: Erst geht es darum, den Verlust zu betrauern, danach darum, das Neue liebzugewinnen.
Über den Autor
Dieter Boch ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Arbeitsforschung und Organisationsberatung (iafob deutschland) und Leiter des internationalen Flexible.Office.Network., einem überbetrieblichen Forum für den Wissens- und Erfahrungsaustausch zur BüroArbeitswelt von Morgen.
Als Dozent lehrte er an der Fachhochschule Salzburg und der Hochschule für Wirtschaft in Zürich Führungsverhalten und Future Work & Workplace Design.
Der Diplom-Psychologe ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen und Mitherausgeber der Buchreihe „Flexible Arbeitswelten“.