Matthias Tobler: „Im Effinger weichen wir die Trennung zwischen Arbeitswelt und Privatsphäre auf“

Er hat mehrere Unternehmen und Coworking Spaces gegründet, beschäftigt sich seit 15 Jahren mit kollaborativen Communities und lehrt Leadership und Entrepreneurship. Matthias Tobler ist Serial Entrepreneur und Mitgründer der Effinger Kaffeebar und Coworking Space in Bern. Dort arbeitet und lebt er mit seiner Familie und entwickelt gemeinsam mit anderen Kreativen innovative Konzepte.

Auf der iafob-Jahrestagung am 22. November 2018 in Bern stellt Tobler die Community- und Kulturentwicklung im Effinger in einer einzigartigen Live-Performance dar. Hierfür hat er sich Hilfe geholt: die Künstlerin Sunita Asnani und den Videograf Chris Lechner.

Wir sprachen mit Matthias Tobler über sein außergewöhnliches Vorhaben, das selbstverantwortliche Arbeiten im Effinger und die Bedeutung von Deep Work.

IAFOB:
„Community- und Kulturentwicklung als wichtigste Faktoren einer kollaborativen und selbstorganisierten (Arbeits-)Welt” ist der Titel Ihrer Performance auf der iafob deutschland Jahrestagung 2018. Gibt es in einer solchen Community auch noch Führungskräfte oder ist Führung ein integraler Bestandteil des Systems?

TOBLER:
Wir verstehen den Effinger auch als ein lebendiges Experiment neuer Führungs- und Organisationsformen. Unter dem Einfluss der Megatrends Digitalisierung, Individualisierung, Globalisierung und ihrer Gegentrends verändert sich die Gesellschaft und Arbeitswelt dramatisch.

Wir stellten uns während rund zwei Jahren vor der Eröffnung des “Effinger – Kaffeebar und Coworking Space” die Frage, wie wir leben und arbeiten wollen. Auf der Suche nach neuen oder vielleicht wieder neu entdeckten Organisationsformen liessen wir uns stark vom Buch “Reinventing Organizations” von Frederic Laloux inspireren.

Wir entschieden uns für das Prinzip der Selbstorganisation. Selbstorganisation bedeutet für uns, dass die Community und der gemeinsame Coworking Space nicht von ein paar wenigen, sondern von allen auf ehrenamtlicher Basis geführt wird.

„Wir verwischen ganz bewusst die Grenze von Business und Privatem und möchten, dass die Coworker nicht so viele Aspekte von ihrem Sein zurücklassen müssen, wenn sie in den Effinger kommen“, sagt Matthias Tobler.

IAFOB:
Wie müssen wir uns das Prinzip der Selbstverantwortung konkret vorstellen?

TOBLER:
Wir haben keine Chefs, oder besser, wir sind alle Chefs und übernehmen Führungsverantwortung. Wenn nicht top-down geführt wird, ist ein klares Fundament, sprich eine klare Ausrichtung entscheidend.

Wir haben deshalb als Community zehn Grundsätze erarbeitet. Sie sind unser Rückgrat und beschreiben, warum und wie wir etwas tun wollen. Diese sollen sich aber auch evolutionär weiterentwickeln. Das heisst, dass wir uns immer wieder fragen wollen, ob sich das, was wir tun, noch “richtig” anfühlt. Wenn nicht, passen wir es an. Wir haben diesen Weg hier sehr ausführlich beschrieben.

IAFOB:
Im Effinger soll out-of-the-box gedacht werden. Bezieht sich das nur auf das Arbeitsleben oder auf alle Lebensbereiche? Auf den gesamten Tagesablauf vom Frühstück bis zum Nachtessen?

TOBLER:
Out-of-the-box zu sein bedeutet für uns zum Beispiel, die übliche Trennung von „Privatsphäre“ und „Arbeitswelt“ aufzuweichen, Durchlässigkeit zu schaffen, interdisziplinären Austausch zu fördern etc.

Unsere Grundsätze der “Ganzheit” und “Vielfalt” und die daraus gefolgten Handlungen sorgen immer wieder für Überraschungen und Irritationen, welche die eigenen Denkmuster und -boxen sprengen.

IAFOB:
Was verstehen Sie genau unter „Ganzheit” und „Vielfalt”?

TOBLER:
Unter dem Grundsatz der Ganzheit verstehen wir beispielsweise, dass wir ein Arbeits- und Lebensort sein möchten, an dem Menschen über Funktionen stehen und in ihrer Ganzheit wahrgenommen und gefördert werden.

So gehört zum Effinger seit zwei Jahren auch ein Wohnprojekt im zweiten Stock dazu. Am langen Community-Tisch nehmen über den Mittag nicht selten auch Kinder der CoworkerInnen Platz. Wir verwischen da ganz bewusst die Grenze von Business und Privatem und möchten, dass die Coworker nicht so viele Aspekte von ihrem Sein zurücklassen müssen, wenn sie in den Effinger kommen.

Unter dem Grundsatz der Vielfalt schätzen wir die Vielfalt von Generationen, Berufen etc. und heissen diese willkommen. Wir experimentieren auch mit diversen Gefässen, in denen Austausch und Inspiration stattfinden kann: Gemeinsame Kaffeepausen, Brownbag, Offener Effinger etc.

In solchen Formaten haben wir nicht selten eine Alters- und Erfahrungsspanne von 35 Jahren und eine grosse Vielfalt von Berufen. Durch die öffentliche Kaffeebar, Vermietung von mehreren Sitzungs- und Innovationsräumen, Meetups etc. sind wir darüber hinaus auch ein öffentlicher Ort und Treffpunkt von Teams aus Grossunternehmungen sowie Interessengruppen geworden.

IAFOB:
Wie wirken sich diese Prinzipien auf die Coworker aus?

TOBLER:
Diese Vielfalt ist sehr oft inspirierend, Augen-öffnend und führt ab und zu sogar zu gemeinsamen Projekten. Oder wenn man von einigen Coworking-Plätzen durch die eine Glasscheibe das pulsierende Leben in der Kaffeebar und durch die andere Glasscheibe einem Handwerker oder Künstler im Atelier zuschauen darf, so wirkt dies für das eigene Arbeiten bereichernd. So sind wir eben nicht nur Kaffeebar und Coworking Space, sondern eigentlich eine urbane Neuinterpretation eines Dorfes auf vier Stockwerken im Zentrum der Stadt Bern.

Matthias Tobler: „Zum Effinger gehört auch ein Wohnprojekt. Am langen Community-Tisch nehmen über den Mittag daher nicht selten auch Kinder der CoworkerInnen Platz.“

IAFOB:
Die iafob-Jahrestagung 2018 betont mit Ihrem Titel “Deep Work” den wichtigen Aspekt des fokussierten Arbeitens. Schaffen Sie im Effinger auch die Möglichkeit, allein und ungestört ein Thema voranzubringen – oder anders ausgedrückt, mit sich selbst allein zu sein? Oder braucht es da einen anderen Ort?

TOBLER:
An den Coworking-Arbeitsplätzen findet grundsätzlich das ruhige und konzentrierte Arbeiten nebeneinander statt. Wir realisierten aber, dass wir klarer definieren müssen, welche Arbeitsstile wo erlaubt sind und richten Telefonzellen und Fokusräume für agile Teams ein.

Auch testen wir demnächst ein persönliches “Ampelsystem”, damit ein Coworker auch “rot” signalisieren kann, wenn er nicht angesprochen werden darf. Das ist ein zentraler Punkt. Wir alle führen unsere Unternehmungen oder bauen eine Selbstständigkeit auf und sind darauf angewiesen auch ungestört im eigenen Flow arbeiten zu können.

IAFOB:
Sie haben vor, in Ihrer Session auf der Jahrestagung, den Effinger und seine Kultur und den Community-Aufbau nicht nur mit Worten zu beschreiben, sondern neben dem gesprochenen Wort (Storytelling) auch durch Bewegung, Tanz und Video zugänglich zu machen. Wie können wir uns das vorstellen?

TOBLER:
Ein Vorteil von durchlässigen Strukturen ist, dass ein interdisziplinärer Austausch sehr einfach vor Ort stattfinden kann und somit innovative Ideen generiert werden: zum Beispiel eine Vortragsform ganz neu zu denken.

So ist unser Vortrag jetzt zu einem Spiel- und Experimentierfeld geworden, dieses Format anders anzugehen. Das frisch gebildete Team besteht aus zwei ausgezeichneten Bewegungskünstlern sowie zwei Videoproduzenten und mir.

Der Beitrag wird zudem in Mini-Workshops mit interessierten Coworkern entwickelt. Wort, Bewegung und Bild schaffen drei Dimensionen der Kommunikation und Inspiration, welche sich gegenseitig beschreiben und ein ganzheitliches, multimediales Erlebnis schaffen. Wir nehmen die Teilnehmenden daher mit auf eine Reise durch fünf Phasen hin zu einer sinnstiftenden Kultur und menschenzentrierten Community.

IAFOB:
Was können die Teilnehmer daraus mitnehmen?

TOBLER:
Dieser Weg kann auch in bestehenden Unternehmungen begangen werden und beschränkt sich nicht auf einen Coworking Space. Mehr dazu möchte ich hier noch nicht verraten.

Vorbereitungen der Performance für die iafob-Jahrestagung im Effinger in Bern.