Prof. Thomas Rigotti: „Bereits im Kindesalter sollte Teamarbeit und die Übernahme sozialer Verantwortung gefördert werden“

Prof. Dr. Thomas Rigotti ist Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirt- schaftspsychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Leiter einer Arbeitsgruppe am Deutschen Resilienz Zentrum. Seine Forschung umfasst unter anderem Auswirkungen der Flexibilisierung der Arbeit, gesundheitsförderliche Führung, Stress und Resilienz im Arbeitskontext, Multi- tasking und Arbeitsunterbrechungen sowie soziale Beziehungen in Organisationen.

Auf der Jahrestagung des iafob deutschland am 22. November 2018 spricht Prof. Rigotti über die Möglichkeiten, komplexe Arbeitsanforderungen zu bewältigen. Wir sprachen mit ihm vorab über Leistung, gesellschaftliche Werte und den Umgang mit Grenzen zwischen Arbeit und anderen Lebensbereichen.

IAFOB:
„Immer und überall? Leistung und Beanspruchung in der Neuen Arbeitswelt“ ist der Titel Ihres Vortrags auf der iafob deutschland Jahrestagung 2018. Wie lässt sich der Erwartung immer „On“ zu sein in einer globalen rein wettbewerbsorientierten Welt begegnen?

PROF. RIGOTTI:
Ich sehe verschiedene Paradoxien in der Entwicklung der Arbeit, darunter unter anderem:

  1. Moderne Kommunikationstechnik erlaubt uns, um ein Vielfaches schneller und ortsunabhängig Informationen auszutauschen als früher – statt Zeit zu gewinnen kehrt sich dies aber in eine zunehmende Informationsüberforderung und Intensivierung der Arbeit,
  2. Die Förderung der Selbstbestimmung und Autonomie war lange das Mantra der Arbeitspsychologie für eine humane Arbeitsgestaltung – die Auflösung zeitlicher Strukturen und die Übertragung an Verantwortung fü r die Arbeitsziele (und die eigene Karriere) bergen jedoch auch Risiken der Unsicherheit und Selbstausbeutung: Je flexibler das Arbeitszeitregime desto mehr wird im Durchschnitt gearbeitet,
  3. Obwohl in vielen Bereichen der Ersatz menschlicher Arbeit durch technische Lösungen angestrebt wird, nehmen gleichzeitig emotionale und soziale Anforderungen zu.

Leistung ist in der Physik definiert als die Relation aufgewendeter Energie in einer bestimmten Zeit. Von Interesse für den Arbeitgeber (oder die Kunden) ist aber vor allem das Arbeitsergebnis, also die Leistung unabhängig von eingesetztem Aufwand. Insbesondere in einem kompetitiven Umfeld wird sowohl die aufgewendete Energie aber vor allem die benötigte Zeit eher heruntergespielt, so dass immer mehr Leistung in kürzerer Zeit eingefordert wird. Um diesen Herausforderungen zu begegnen bedarf es individueller Strategien, aber vor allem gemeinsamer Aushandlungen von Erwartungen im Team und der Organisation.

IAFOB:
Welche gesellschaftlichen Werte müssen betont werden und welche Regeln, z.B. zum Erhalt und Förderung der Gesundheit sind notwendig, damit in der neuen Arbeitswelt der Mensch bei der Gestaltung der Arbeit an erster Stelle steht?

PROF. RIGOTTI:
Während die individuellen Gestaltungsoptionen zunehmen (zumindest für Hochqualifizierte), nimmt der Einfluss von Gewerkschaften ab. Es entsteht der Eindruck der Machtlosigkeit und daraus wird dann erlernte Hilflosigkeit. Das Erleben von Kontrolle, von Kompetenz und Zugehörigkeit sind aber menschliche Grundbedürfnisse, deren Nichtbefriedigung zu psychischen Problemen führen kann.

Echte Kooperation bedarf einer Begegnung auf Augenhöhe, der gegenseitigen Rücksichtnahme und dem Aufbau von Vertrauen. Selbst- und Mitbestimmung erfordern Kompetenzen und insbesondere auch entsprechende Erfahrungen. Diese können bereits früh im Leben gefördert werden. In Kindergarten, Schule, Ausbildung und Studium sollte Teamarbeit und die Übernahme sozialer Verantwortung, neben der Wissensvermittlung, fest verankert sein. Die Beachtung menschlicher Grundbedürfnisse wird dann wahrscheinlicher, wenn diese auch von der Mehrheit eingefordert wird.

IAFOB:
Arbeit ist ein Bereich des Lebens. Und jeder Einzelne muss Selbstverantwortung übernehmen für die Gestaltung seiner verschiedenen Lebensbereiche, um eine Life-Domain-Balance zu erreichen. Wie kann diese Selbstbestimmung durch die Organisation oder das Unternehmen unterstützt werden?

PROF. RIGOTTI:
Es ist wichtig, zwischen Flexibilitätsanforderungen und individuellen Flexibilitätsbedürfnissen zu unterscheiden. Ohne die Vorteile eines flexiblen Arbeitsumfeldes aufgeben zu müssen, sollte bei der Planung und Bewertung von Arbeitsleistung auch der Aufwand wieder stärker beachtet werden.

Eine herausragende Rolle nehmen hier Führungskräfte ein, um Ressourcen bereitzustellen und rechtzeitig einer Überforderung gegenzusteuern. Das Thema Gesundheit wird durchaus in vielen Betrieben großgeschrieben. Nach wie vor dominieren aber verhaltensbezogene Präventionsansätze. Hier braucht es mehr Mut auch Prozesse und Strukturen zu hinterfragen und in partizipativen Ansätzen gemeinsame Regeln auszuarbeiten.

IAFOB:
Die Jahrestagung 2018 betont mit Ihrem Titel “Cowork” den wichtigen Aspekt des Zusammenarbeitens, des Austauschs und gemeinsamen Lernens. Lassen sich aus diesen sozialen Beziehungen gemeinsam Spielregeln für das Arbeiten und Zusammenleben in anderen Lebensbereichen entwickeln, die dann auch gesellschaftlicher Konsens werden?

PROF. RIGOTTI:
Der Mensch scheint getrieben vom technischen Fortschritt. Die Regeln des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens werden aber immer noch von Menschen und nicht von Maschinen gemacht. Meist sind Erwartungen, wie etwa an die Erreichbarkeit, implizit: Wenn meine Chefin am Samstagabend eine E-Mail schreibt, dann erwartet sie doch bestimmt, dass ich gleich darauf reagiere. Aber vielleicht ist dies gar nicht der Fall? Was hier hilft, ist die gemeinsame Aushandlung von Regeln.

Klar sind soziale Beziehungen nicht immer konfliktfrei – aber letztlich überwiegen die Vorteile gegenseitiger Unterstützung und die gemeinsame Nutzung von Ressourcen. Selbstverständlich kann es hier auch zu Übertragungen zwischen verschiedenen Lebensbereichen kommen. Ein aus meiner Sicht wünschenswerter gesellschaftlicher Konsens wäre die Anerkennung und Wertschätzung unterschiedlicher individueller Bedürfnisse, statt einer einheitlichen Norm (welche immer auch ausgrenzt).